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Alles wird anders: Mitarbeiter im Prozess der Regionalisierung

02.09.2016 | Dirk Tritzschak

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Dirk Tritzschak

Dirk Tritzschak ist Leiter des Bereichs Teilhabe in der NRD.

Alles wird anders: Mitarbeiter im Prozess der Regionalisierung

Im Oktober 2005 fasste der Stiftungsrat der Stiftung Nieder-Ramstadter Diakonie (NRD) den Beschluss, die stationären Wohnangebote zu regionalisieren. Die Großeinrichtung sollte aufgelöst und 396 der 642 Wohnplätze auf dem Kerngelände in Nieder-Ramstadt sollten auf die Region Südhessen verteilt werden. Dieser Entschluss galt somit auch für viele Arbeitsplätze der Mitarbeitenden.

 „Die Zeit der großen ‚Anstalten‘ ist endgültig vorbei, sie hospitalisieren und verhindern Integration.“ heißt es in der Begründung des NRD-Vorstands zum Regionalisierungs-Beschluss. Die großen Häuser in Nieder-Ramstadt sollten geschlossen und die Wohnplätze in kleinteiligen Angeboten in die Städte und Gemeinden der Region verlagert werden. Die grobe Richtung war somit vorgegeben. Aber was bedeutete dieser Entschluss nun genau? Zunächst gab es keinen detaillierten Plan, keine „Karte“, die Orientierung geben konnte. Wie eine Kompassnadel wies der Regionalsierungsbeschluss die Richtung. Welche Berge und Täler jedoch durchschritten werden mussten, war damals niemandem wirklich klar.

Es galt nun die Leitungsebene von der neuen Richtung zu überzeugen. Insbesondere den Bereichs- und Hausleitungen in den Betreuungsbereichen waren die unzumutbaren Lebensbedingungen in den großen Häusern in Nieder-Ramstadt sehr bewusst. Die Überzeugungsarbeit an dieser Stelle konnte in den Leitungsgremien und Klausuren geleistet werden. Aber wie sollte der Veränderungsprozess nun von statten gehen? Im Prinzip wusste dies keiner wirklich. Einen schmalen Pfad legten die wenigen Einrichtungen, die den Weg der Regionalisierung bereits eingeschlagen hatten. Von den Vorreitern - den Evangelischen Stiftungen Alsterdorf und Mönchengladbach – hörten wir unter anderem den Rat: „Fangt einfach an! Jede Einrichtung muss ihren eigenen Weg gehen!“

In der NRD wurden zunächst Projekte zur Kommunikation und Umsetzung der Regionalisierung ins Leben gerufen. Man begann mit der Suche nach kleinen Standorten für 9- 16 Personen im Zentrum der umliegenden Gemeinden mit guter Infrastruktur. Zeitgleich wurden drei bereits in den 1990er Jahren geplante Wohnheime mit je 48 Plätzen außerhalb von Nieder-Ramstadt gebaut und eröffnet. Diese Häuser, zur Reduzierung von Drei- und Zweibettzimmer geplant, läuteten faktisch die Regionalisierung der NRD ein. Die neuen Wohnheime stellten zwar einen ersten großen Schritt dar. Sie waren wegen der geringen Einbindung der KollegInnen an der Betreuungs-Basis jedoch wenig geeignet, Mitarbeitende auf die Reise mitzunehmen und für den neuen Weg zu begeistern.

Ungewissheit macht Angst

Für viele MitarbeiterInnen war es damals nicht einfach, die Entscheidung des Vorstands nachzuvollziehen, denn sie konnten sich die Zukunft noch gar nicht vorstellen. Während etwa ein Drittel der damals rund 1.300 Mitarbeitenden die Veränderung kaum abwarten konnte, gab es etwa ebenso viele, die die Regionalisierung ablehnten oder sich abwartend und neutral äußerten. Als die geplanten Schritte für die Umsetzung bekannt gemacht wurden, gab es etliche, die glaubten, dass sich für sie zunächst gar nichts ändern würde: „Unser Haus ist noch lange nicht dran.“ Bedenken wurden laut: „Natürlich, die alten und großen Wohnheime auf dem Kerngelände bieten nur wenig Intimsphäre - aber wird es für BewohnerInnen in Städten in der Region nicht viel zu gefährlich?“ Und schließlich ging es ja auch um die Verlagerung der Arbeitsplätze an noch unbekannte Orte. Vielen Mitarbeitenden hatten das Gefühl, man würde ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen. Das Ziel war für sie zu ungenau beschrieben.

„Sie werden mich doch sicher kündigen“, äußerte ein langjähriger Mitarbeiter damals. Ein Eindruck, den er wohl aus der Tatsache hergeleitet hatte, dass man sich anfangs noch auf Stellen in den neuen Wohnprojekten bewerben musste. Und tatsächlich fragte man sich auf der Leitungsebene manchmal, ob das Vorhaben der Regionalisierung mit langjährigen und manchmal auch hospitalisierten Mitarbeitenden überhaupt machbar sein würde. Oder war es nicht erfolgsversprechender, mit einer neuen Belegschaft in die Zukunft zugehen?

Zum Glück setzten sich diese Gedanken nicht durch. Denn auch den Führungskräften, die selbst unerfahren in Veränderungsprozessen dieser Dimension waren, war klar, dass dieser gewaltige Umbruch die Mitwirkung jedes Mitarbeitenden erforderte. Es ging nicht nur um innovative Ideen, sondern auch darum, BewohnerInnen und Angehörigen in dieser Veränderung Sicherheit zu geben: Das enorme Wissen um die Menschen in unseren Einrichtungen, die Erfahrung der Mitarbeitenden wurden gebraucht.

Neue Wohnmöglichkeiten sollten geschaffen werden. BewohnerInnen sollten unter den verschiedenen Angeboten wählen können. Mehr Teilhabe an alltäglichen Lebensvollzügen, wie Waschen, Kochen, etc. gehörte ebenso zum Auftrag wie die Schaffung besserer Voraussetzungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Da kamen umfassende Veränderungen auf die KollegInnen in ihrer alltäglichen Arbeit zu. Waren doch die meisten Wohngruppen in Nieder-Ramstadt abgeschnitten von der Gesellschaft, und zentralversorgt mit Essen, Lebensmitteln, Wäscherei und Ärztlichem Dienst.

Eine neue Gesprächskultur

Um über die anstehenden Veränderungen ins Gespräch zu kommen, fanden jetzt regelmäßig Gesprächsrunden für Mitarbeitende, sogenannte „Talks“ genannt, statt. Als Gäste lud man je nach Thema u.a. die Vorstände und Regionalleitungen ein. Zunächst stellen „Moderatoren“ den Talkgästen die Fragen. Es wurden Themen angesprochen, die bis dahin wahrscheinlich nur unter vorgehaltener Hand diskutiert worden waren. Auch ging es um die Ängste und Sorgen, die viele umtrieben. So konnten die Mitarbeitenden erleben, wie sich Vorstand und Leitungskräfte den Fragen stellten. Nach und nach wurden die Talks lebendiger und viele KollegInnen nahmen ohne Verpflichtung daran teil. So konnte ein relativ offenes und vertrauensvolles Klima geschaffen werden. Rückblickend kann man sagen, dass die Themen der Talks das spätere Handeln prägten. Plötzlich war eine breite Basis an den Veränderungen beteiligt.
Noch in der Tradition der Vorprojekte wurden die ersten kleineren Wohneinheiten weiterhin hauptsächlich durch Leitungskräfte geplant. Eine direkte Beteiligung der Mitarbeitenden gab es erst nach Fertigstellung der Gebäude zur Umzugsvorbereitung. Diese Rahmenbedingungen waren merklich nicht für die weitere Regionalisierung geeignet. Viele Bedarfe waren nicht im Blick. Um hier besser zu werden, wurden umfangreich Bedarfe erhoben und auch Erfahrungen aus der bisherigen Praxis kritisch betrachtet.

Dies führte ab 2009 dazu, dass Mitarbeitende und Teamleitungen schon in die ersten Schritte der Standortentwicklung eingebunden wurden. Die Projekte waren nun keine reinen „Bauprojekte“ mehr. Planungsstände konnten offen in Mitarbeiterteams besprochen werden. Und es gab einiges zu besprechen und kontrovers zu diskutieren. Man konnte sich zum Beispiel nicht vorstellen, wie eine Wohneinheit über mehrere Stockwerke sinnvoll zu betreuen ist. Und auch die offene, für alle zugängliche Küche, war noch nicht vorstellbar. Aber auch viele Ideen der Mitarbeitenden konnten aufgegriffen werden. Der Veränderungsprozess in den Köpfen begann nun weit vor dem tatsächlichen Umzug. Man konnte sich gemeinsam vorbereiten, indem man z.B. Betreuungssituationen in Teamsitzungen durchspielte.

Wahlmöglichkeiten

Gesteuert durch eine Wohnberatung und die Leitungskräfte, formierten sich zukünftige Wohngemeinschaften und Teams bereits in den alten Wohnhäusern in Nieder-Ramstadt, um dann gemeinsam umziehen zu können. Dies hatte zur Folge, dass frühzeitig individuelle Entscheidungen getroffen werden mussten. Durch die wachsende Zahl der Standorte entstanden eben auch Wahlmöglichkeiten für Mitarbeitende. Mitarbeitende fragten sich, ob sie in ihrem vertrauten Team bleiben oder etwas Neues beginnen sollten, um z.B. einen Arbeitsplatz in der Nähe ihres Wohnorts anzunehmen. Bis heute fallen diese Entscheidungen häufig nicht leicht.

Mitarbeitende waren jetzt so gut eingebunden, dass sie BewohnerInnen und Angehörige auf dem Laufenden halten konnten. Das erleichterte Vieles und trug wesentlich dazu bei, dass größere Aufregung um die Regionalisierung vermieden werden konnten. Die Angehörigen vertrauten den Mitarbeitenden.

Spatenstiche und Richtfeste waren wichtige Meilensteine, die den Plan mehr und mehr Wirklichkeit werden ließen. Diese Feste wurden genutzt, um Veränderung zu kommunizieren und konkret erlebbar zu machen. Nun konnte man Kontakt zu seinem neuen Zuhause oder seinem Arbeitsplatz aufnehmen. Der erste Kaffee wurde gemeinsam im Wohnzimmer des Rohbaus getrunken werden. Jeder war nun ein bisschen stolz auf sein Mitwirken im Projekt. So entstand die notwendige Motivation für anstehende Umzugsstrapazen.

„Wir wollen nicht mehr zurück“

Schon kurz nach dem Umzug einer neuer formierten Wohngruppe in die Region kamen positive Botschaften zurück in die Einrichtung: „Es ist anstrengend bis chaotisch, und es gibt noch sehr viel zu tun, aber wir wollen nicht mehr zurück“. Mitarbeitende aus der Region berichteten in den Talks offen und ehrlich von ihren Erfahrungen. Jetzt kamen Informationen direkt von KollegInnen aus der regionalen Praxis. Gesprächsrunden waren jetzt noch besser besucht und es nahmen auch KollegInnen aus den Verwaltungsabteilungen daran teil. Immer mehr Mitarbeitende wollten an der Regionalisierung teilhaben. Natürlich gab es auch weiterhin viele Skeptiker – aber der größteTeil der Mitarbeiterschaft war im Boot.

„Wann kommen wir endlich dran?“ Diese Frage wird bis heute noch gestellt. Regionalisierung braucht Zeit, denn geeignete Standorte müssen erst gefunden, bedarfsgerechte Immobilien zumeist neu gebaut werden. Viele MitarbeiterInnen warten daher seit zehn Jahren auf einen neuen Wohn- oder Arbeitsort. Zwar hat die Stiftung NRD bereits 385 der Wohnplätze in die Region verlagert, aber der Regionalisierungsbeschluss von 2005 wurde mittlerweile erweitert, so dass letzten Endes nur noch 60 stationäre Wohnplätze in Nieder-Ramstadt verbleiben werden.

Natürlich kann jeder Mitarbeitende für sich selbst sorgen, und in der Region sind immer wieder Stellen frei. Eine Tatsache, die vielleicht etwas für Beruhigung sorgt. Aber wir stellen auch dankbar und anerkennend fest, dass es KollegInnen gibt, die seit bis zu 10 Jahren weiterhin in Nieder-Ramstadt ihren Dienst tun und auf ein Projekt warten. Diese MitarbeiterInnen leisten einen ebenso großen Beitrag zum Gelingen der Regionalisierung wie diejenigen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben.

Was durch die ersten Regionalisierungsprojekte deutlich wurde: Mit dem Umzug ist nicht automatisch eine Haltungsänderung verbunden. Die Mitarbeitenden brauchen Zeit und auch mitreißende Erfahrungen, um von festgefahrenen Abläufen wegzukommen. Sie haben in der Vergangenheit Rollen eingenommen und durch die Einrichtung zugeschrieben bekommen, die sie nun nach und nach ablegen sollen. Dies unterstreicht, dass der Veränderungsprozess, den eine Großeinrichtungen mit der Regionalisierung eingeht, viel mehr umfasst als bauliche Maßnahmen und eine gute Umzugs-Organisation.

Veränderung ist jetzt Normalität

Nach zehn Jahren Regionalisierung gibt es schon lange keine Talks mehr. Die Gesprächskultur ist mittlerweile eine andere. Es wird in alle Gremien mittlerweile stetig über Veränderungen gesprochen. Veränderung ist mittlerweile Normalität geworden. Auch an den neuen Standorten gibt es stetigen Anpassungsbedarf. Nun heißen die Schlagworte „Sozialraumorientierung“ und „Inklusion“. Auch die weitere Zukunft ist also ein offener Prozess, aber es existiert doch sehr viel mehr als nur eine Kompassnadel, die die Richtung weist. Nämlich die vielen guten und wichtigen Schritte, die die Mitarbeitenden der NRD inzwischen gegangen sind.                                          

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