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Begleitung von Autisten mit PART

12.05.2016 | Marlene Broeckers

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Marlene Broeckers

Texterin der NRD

Begleitung von Autisten mit PART

Das ungemütlichste Wohnhaus in ganz Mühltal? Würde dafür ein Preis ausgelobt, die Bergstraße 1 a am Rande des NRD-Geländes hätte die besten Aussichten, zu gewinnen. Das Haus, eines von drei Autisten-Häusern auf dem NRD-Gelände in Nieder-Ramstadt, ist äußerst karg eingerichtet. Keinerlei Accessoires. Im gemeinsamen Wohnzimmer nur nackte Möbel und ein verschlossener Medienschrank. Ganz ähnlich die Bewohner-Zimmer. Einzige Ausnahme ist das Zimmer von Gavrilis*: Hier ist alles vollgestellt, eine heillose Unordnung, wie es scheint. „Wenn wir hier irgendetwas berühren und leicht verschieben, bricht für ihn das Chaos aus“, sagt Teamleiter Ingo Hampel. Er ist Fachmann für professionelles Handeln in Gewaltsituationen. Diese Kompetenz ist für die Mitarbeitenden in der Bergstraße eine Voraussetzung, um hier arbeiten zu können.

PART Professionell handeln in Gewaltsituationen (Professional Assault Response Training)ist die Abkürzung für das Konzept für Proffessionelle, die mit Menschen arbeiten, deren Verhaltensauffälligkeiten sich manchmal in Gewalt ausdrücken, das in Amerika entwickelt wurde und darauf abzielt, auf Angriffe richtig zu reagieren. Angewandt wird es „in Psychiatrien, Kliniken und in Zeiten von Hartz IV auch bei der Agentur für Arbeit“, wie Ingo Hampel erklärt. Mit PART müssen auch die Teams vertraut sein, die in den Autistenhäusern arbeiten. Ingo Hampel, 40, machte 1999 seine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger im ersten Autistenhaus der NRD begonnen hat. In diesem Metier arbeitet er bis heute. Als PART im Jahr 2008 in der NRD eingeführt wurde, interessierte er sich sofort dafür und wurde 2009 der erste PART-Trainer der NRD. Inzwischen gibt es vier weitere Kollegen, die PART vermitteln und sich durch regelmäßige Auffrischungskurse auf dem neusten Stand halten.

Nicht nur bei Menschen mit Autismus ist PART ein sinnvolles Handlungskonzept, sondern bei allen Personen mit herausforderndem Verhalten, die – um ihre Bedürfnisse auszudrücken – nicht selten sich selbst und andere Menschen verletzen. Dass Mitarbeitende sich selbst schützen, wenn sie mit Menschen arbeiten, die ihr Verhalten nicht selbst kontrollieren können, ist das oberste Ziel des Konzeptes. Das pädagogische Ziel, an dem das Team in der Bergstraße 1 a gemeinsam arbeitet, lautet: Von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung. Anders gesagt: Die Bewohner sollen in die Lage versetzt werden, sich möglichst uneingeschränkt zu bewegen, ohne anderen dabei Schaden zuzufügen. Dass dies bei Menschen mit Autismus und geistiger Behinderung ein langer Weg ist, zeigt die Entwicklungen der Menschen in den drei Häusern. Die Bergstraße 1a, erst 2012 eröffnet, steckt noch in den Kinderschuhen, profitiert aber von der langjährigen Erfahrungen in der NRD.

                                         
Minimierung von Reizen in einem Zimmer des Wohnbereiches für Menschen mit Autismus
Minimierung von Reizen in einem Zimmer des Wohnbereiches für Menschen mit Autismus

Eine internationale Gemeinschaft von sechs jungen Männer mit familiären Wurzeln in Peru. Italien, Israel, Griechenland und Deutschland bildet die WG. Gavrilis* spricht deutsch und griechisch, hat aber oft Probleme, sich mitzuteilen. Zwei der Männer sprechen in Ein- oder Zweiwortsätzen, drei drücken sich durch Mimik und Gesten aus.

„Das gesprochene Wort ist ohnehin unzuverlässig“, sagt Ingo Hampel. Stimmt! Wie oft wissen wir wirklich, was ein anderer Mensch meint, auch wenn wir in derselben Sprache kommunizieren? Noch viel schwieriger oder gar unmöglich ist es für Autisten, zu wissen, was andere meinen. Die komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung, die zusammenfassend „Autismus“ oder „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) genannt wird, ist eine angeborene Störung der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung, infolge dessen auch der Entwicklung des sozialen Verhaltens und der Kommunikation.

Wer Menschen mit Autismus begleitet, muss sehr viel wissen und gute Antennen haben, um zu spüren, wann sich ein Problem anbahnt. Und als Team muss man nach ganz klaren Regeln arbeiten. „Sicherheit durch Struktur“ ist der wichtigste Grundsatz. Zur Struktur kann zum Beispiel auch eine karge Einrichtung gehören. Was unsereinem als dekorativ, schön und gemütlich erscheint – Sofakissen, Tischdecken, Blumenvasen, Bilder – kann für ASS-Menschen eher unnötig oder gar störend sein und in seiner Funktion gar nicht gewürdigt oder verstanden werden. Deshalb ist der Medienschrank im Wohnzimmer mit unterschiedlichen Abteilungen für Fernseher, Radio und CD-Spieler abgeschlossen. Denn jemand könnte auf die Idee kommen, alle drei Geräte gleichzeitig spielen zu lassen - oder alle drei aus dem Schrank zu nehmen und auf den Boden zu werfen, damit es ruhig ist.

Deswegen hängen die kleinen Musikanlagen in den einzelnen Zimmern in stabilen Holzkästen, die fest an die Wand gedübelt und mit einer Plexiglastür verschlossen sind. Nur das Steckerkabel ist von außen greifbar. „Wir stellen den Leuten die Musik ein, die sie hören möchten und sie ziehen dann einfach den Stecker, wenn es genug ist“, erklärt Ingo Hampel, nicht ohne großes Lob für den externen Schreiner Matthias Spänle, der mit allen handwerklichen Tricks arbeitet, um möglichst viele Dinge im Haus verfügbar und zugleich geschützt zu halten.

Auch der NRD-Architektin Karin Giessler ist Ingo Hampel dankbar, denn mit ihrer Unterstützung ist es gelungen, im Erdgeschoss ein drittes Zimmer einzurichten, so dass die WG jetzt gleichmäßig auf beide Stockwerke verteilt ist. Das Zimmer für Gavrilis* wurde dazugewonnen, indem eine kleine Terrasse zum Wohnraum umgebaut wurde.

Wir schauen hinein. Rundum sind die Wände bis in etwa zwei Meter Höhe mit einer silbernen Riffelblech beschlagen, es sieht ein bißchen aus wie im Inneren eines Kühlhauses. „Das hat sich Gavrilis* so gewünscht“, sagt Hampel. Im Zimmer ist kein halber Quadratmeter freie Fläche, überall liegen, stehen und stapeln sich Dinge, unter anderem hohe Stöße mit Aufbewahrungskisten, voll mit Modellfahrzeugen, die unbenutzt und fast alle gleich aussehen. In diese ganz persönliche (Un-)Ordnung einzugreifen, gehört nicht zu den Zielen der pädagogischen Arbeit, solange es keine hygienischen Probleme gibt. Gut für Gavrilis* ist, dass er hier quasi sein eigenes Apartment hat – mit einem Vorraum, der auch nach draußen in den Garten führt.

Im Gegensatz zu Gavrilies* brauchen oder bevorzugen alle übrigen Mitbewohner eine sehr reduzierte Zimmereinrichtung, extrem im Fall von Angelo*: Ein leerer Tisch, ein kleiner Schrank, ein Bettgestell ohne Matratze. Angelo* schläft auf einer dünnen Matte auf dem Fußboden, das Bettzeug ist tagsüber weggeschlossen.

Das Bad, das er mit zwei Mitbewohnern nutzt, ist vollkommen frei von beweglichen Gegenständen. Alles, was für den Toilettenbesuch und die Körperpflege gebraucht wird, steht draußen im Flur in einem abgeschlossenen Schrank und wird im Bedarfsfall einzeln herausgegeben.

Freilich gibt es große individuelle Unterschiede zwischen den Menschen mit ASS und es konnten in den letzten Jahren bei vielen Bewohnern des Wohnverbundes deutliche Entwicklungen beobachtet werden – so sind die beiden anderen schon länger bestehenden Autisten-Wohngruppen inzwischen wesentlich wohnlicher, „normaler“ und weniger reizarm ausgestattet, und die Bewohner dort kommen mittlerweile gut damit zurecht und fühlen sich wohl.

Aufräumen, wegräumen, einschließen, aufschließen gehört zur täglichen Routine des Teams. Auch vier der Bewohner dürfen zeitweise eingeschlossen werden, wofür ein richterlicher Beschluss erforderlich ist. „Das klingt nach Strafe, ist es aber nicht“, erklärt Ingo Hampel, „zu wissen, dass sie eingeschlossen sind, ist für diese Menschen oft die einzige Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen.“

Allerdings kann es auch Teil des „Konsequenzplanes“ zur Förderung von sozialen Kompetenzen sein, dass ein WG-Mitglied einen Tag im Zimmer verbringen und auch die Mahlzeiten dort einnehmen muss. Dies ist zum Beispiel derzeit die Maßnahme für Angelo*, wenn er andere schlägt oder an den Haaren zieht. Wenn solches passiert, darf er sich für den Rest des Tages nur noch im „blauen Salon“, also dem Time-out-Raum, im Gärtchen (einem abgetrennten, leinen Teil des Außengeländes) oder in seinem Zimmer aufhalten. „Wir haben zwei Jahre gebraucht, um in Versuch und Irrtum Konsequenzen für Angelo* zu finden, die ihn überhaupt beeindrucken“, sagt Ingo Hampel.

Dass die Konsequenzpläne für jeden Bewohner von allen Teammitgliedern eingehalten werden, ist absolut notwendig, weil jede Abweichung die Glaubwürdigkeit der Mitarbeiter erschüttern kann. Und damit wäre die Maßnahme zum Scheitern verurteilt. „Die Männer testen auch oft ganz bewusst unsere Glaubwürdigkeit, indem sie irgendeinen Unsinn machen und dann abwarten, wie wir reagieren“, sagt Hampel, „jede Inkonsequenz bedeutet für den Betroffenen nicht etwa eine erfreuliche Ausnahme, sondern erzeugt Unsicherheit und kann ungeahnte Folgen haben.“

Fit für den Job hält Ingo Hampel sich unter anderem durch ein tägliches 45-Minuten-Training, ein Mix aus Meditation und Fitness-Übungen. Was er von seinen Klienten vor allem gelernt hat, ist Hartnäckigkeit. Er verrät auch, wieso ihm diese schwierige Arbeit auch nach so vielen Jahren noch Spaß macht: „Ich finde die Menschen, mit denen ich zu tun habe, das Klientel immer wieder faszinierend!“

*Namen geändert

PART ist die Abkürzung für „Professional assault response-Training“ und wird sinnvoll am besten übersetzt mit „Professionelles Handeln in Gewaltsituationen“. Das PART-Konzept hat drei wesentliche Aspekte:

1.Selbstreflektion: Der Mitarbeitende ist stets für sein Handeln verantwortlich ist. Er muss bewusst auf jeden Einzelnen zugehen und sein eigenes Verhalten ständig reflektieren. Unter Umständen kann es die Kleidung, eine bestimmte Farbe oder ein Schmuckstück sein, dass neu und reizvoll ist oder jemanden animiert, daran zu ziehen.

2. Die Situations-Analyse: Es gilt zu erforschen, welcher eigentliche Grund hinter dem Verhalten eines Menschen steckt. „Wir haben wir zum Beispiel festgestellt, dass Angelo* seinen Wunsch nach Kommunikation dadurch ausdrückte, dass er einem auf dem Kopf schlug“, erklärt Ingo Hampel, „Als das klar war, haben wir angefangen, ein anderes Signal mit ihm einzuüben: Über den Arm des anderen streichen, anstatt ihm auf den Kopf zu hauen.“

3. Die Arbeit versteht sich als lernendes System: Der Begriff macht deutlich, dass alle – Klienten und Mitarbeitende – sich ständig verändern und weiterentwickeln. Eine gute Dokumentation ist erforderlich, um Entwicklungen nachvollziehbar zu machen und alle Mitarbeitenden auf dem gleichen Wissensstand zu halten.

1  Kommentar

  • Marchiano, Petra
    06.01.2019 17:23 Uhr

    Ich bewundere die Menschen die mit Autisten umgehen können.
    Ich selbst habe einen 29- jährigen Sohn mit Autismus, er lebt seit 2 Jahren selbstständig in einer kleinen Wohnung, aber seine Wutausbrüche bleiben und ich bin 67 und habe fast keine Kraft mehr, es hinzubekommen! Was kann ich tun, wissen sie Rat? Grüße Petra Marchiano

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