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Besondere Beschulung für besondere Kinder

03.03.2020 | Marlene Broeckers

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Marlene Broeckers

Texterin der NRD

Besondere Beschulung für besondere Kinder

„Du störst. Du nervst. Dich können wir hier nicht gebrauchen.“ Wie fühlt sich ein Kind, das ständig solche Sätze hört? Ganz sicher nicht willkommen. Und wie reagiert ein Kind darauf, nicht willkommen zu sein? Unterschiedlich: Das eine Kind wird aggressiv und schlägt um sich, das andere zieht sich zurück und verweigert jeden Kontakt. Wie kann man solche „schwierigen Kinder“,  unterrichten? Die NRD Orbishöhe für Kinder- und Jugendhilfe praktiziert in Groß-Gerau eine erfolgreiche Kooperation mit EVIM, dem Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau.

EBU ist die Abkürzung für dieses relativ neue Arbeitsfeld. Die drei Buchstaben stehen für Erzieherische Bildung und Unterricht. EBU schafft die Voraussetzungen dafür, dass Kinder sich im sozialen Umfeld angemessen verhalten können und nicht überall anecken. EBU verhilft Kindern und Jugendlichen inzwischen auch zu einem Schulabschluss.

Das EBU-Gebäude der NRD-Orbishöhe liegt im Gewerbegebiet Groß-Gerau Nord. Man fährt am Wasserwerk vorbei und fragt sich: Hier soll eine Schule sein? Tatsächlich, in der Breslauer Straße 7, wo man zum Malerbetrieb Seibert einbiegt, findet sich auch EBU. Im Erdgeschoss des Industriebaus liegen allerlei Spielgeräte, über die Metalltreppe geht es in den ersten Stock, wo die Räume für den Unterricht, die Arbeit und den Aufenthalt von 16 Kindern liegen. Die Grundschüler*innen sind in zwei Gruppen zu je acht Kindern aufgeteilt, es gibt die „blaue Klasse“ und die „grüne Klasse“ mit angrenzenden Räumen für Einzelbetreuung, Spielen und Werken. Und die gemeinsame Küche für alle.

Modellregion für Inklusion
Martina Tonollo, Regionalleiterin der NRD-Orbishöhe im Kreis Groß-Gerau, erklärt, wie das Konzept EBU entstand. Der Kreis Groß-Gerau ist seit 2013 eine der sechs hessischen Modellregionen für Inklusion. Das Ziel: Gemeinsame Bildung und Betreuung von Anfang an.

„Es zeigte sich jedoch, dass unser Schulsystem eben nicht für alle Kinder geeignet ist“, berichtet Martina Tonollo. „So wurden für Kinder, die in den Grundschulen des Kreises durchzurutschen drohten, sogenannte Korridorklassen gebildet. Ziel war, die Kinder im emotionalen und sozialen Bereich auffälliges Verhalten zeigten, jedoch keine „Diagnose“, also keinen konkret festgestellten Förderbedarf hatten, in einem Zeitraum von maximal sechs Monaten so weit zu bringen, dass sie wieder in ihre Regelschule zurückkehren können.“

Die NRD-Orbishöhe übernahm die sozialpädagogische Betreuung und Förderung im Rahmen sozialer Gruppenarbeit, den Unterricht übernahm die Dezentrale Schule für Erziehungshilfe. „Am Ende des fünf Jahre währenden Modellprozesses stand fest: Das Korridor-Konzept und der Bedarf der Kinder passen nicht zusammen“, erklärt Martina Tonollo. Der Zeitraum von sechs Monaten erwies sich als viel zu kurz. Außerdem fehlte ein Angebot für Kinder mit einem festgestellten Förderbedarf im emotional-sozialen Bereich. Diese wurden während des Modell-Zeitraums außerhalb des Kreises Groß-Gerau unterrichtet, einige von ihnen in der Schule am Geisberg in Wiesbaden, eine Förderschule für sozial emotionale Entwicklung, dessen Träger EVIM Bildung ist.

Von Korridorklassen zu EBU
Deshalb wurde das Angebot überarbeitet und dem aktuellen Bedarf angepasst. Das Jugendamt des Kreises Groß-Gerau betonte, dass für Kinder mit emotional-sozialem Förderbedarf die Erziehung Vorrang habe vor dem Unterricht. So kam es zu der Begriffsschöpfung „Erzieherische Bildung und Unterricht“, kurz EBU. Außerdem wurde beschlossen, dass die betroffenen Kinder aus dem Kreis Groß-Gerau nicht länger nach Wiesbaden transportiert werden, sondern im eigenen Landkreis gefördert werden sollen. Zuständig für den Unterricht sind Lehrkräfte der Geisberg-Schule, somit ist EVIM Bildung seit August 2018 neuer Kooperationsparttner der Orbishöhe.

Mit Beginn des Schuljahres 2019/20 konnte das Angebot für Kinder und Jugendliche ab der 5. Klasse in einem zusätzlichen Gebäude erweitert werden. In den beiden EBU-Angeboten arbeitet nun je ein Team von EVIM-Lehrkräften mit der NRD-Orbishöhe zusammen. Die Teams der Orbishöhe werden geleitet von Julia Mühlmann (Angebot 1.-bis 4. Klasse) und Daniel Rink (5. bis 9. oder 10. Klasse).

Julia Mühlmann, seit 2013 in der NRD Orbishöhe, startete zunächst in einer stationären Wohngruppe, wechselte 2015 in die Korridorklassen, erlebte die Umstrukturierung zu EBU und übernahm im August 2019 die Teamleitung.

Daniel Rink, der seit 2011 zur NRD Orbishöhe gehört und bislang für stationäre Wohnangebote für Jugendliche in Nieder-Ramstadt zuständig, war übernahm die Teamleitung für das sich im Aufbau befindende neue EBU-Angebot.

Philosophie passt zusammen
Das Konzept des neuen EBU- Angebotes (ab 5. Klasse) ist auf 30 Kinder und Jugendliche ausgelegt. „Derzeit werden 26 Schüler*innen in vier Klassen unterrichtet“, berichtet Rink bei unserem Gespräch Ende Oktober, „wir sind aber weiter mit Aufnahmen beschäftigt und insgesamt natürlich noch in der Findungsphase. Neue Lehrkräfte, neue Sozialpädagogen und neue Schüler*innen müssen einander erst einmal kennenlernen. Die Philosophie von EVIM und NRD-Orbishöhe passt zusammen, beide sind diakonische Träger, aber dennoch hat jedes Unternehmen seine eigene Sprache.“ Für den Start der Mittelschule ist es zweifellos von Vorteil, dass sie ganz in der Nähe der EBU-Grundschule liegt, nur 200 Meter entfernt am Nordring, weshalb sie „EBU-Nordring“ heißt.

„Ziel ist auch hier die Rückführung an die Regelschule“, sagt Daniel Rink, „aber die Erfahrung zeigt, dass eine längere Verweildauer notwendig ist. Wer in der Regelschule viele schlechte Erfahrungen gemacht hat, braucht den geschützteren Rahmen der EBU, die kleinen Klassen und die individuelle Betreuung. Außerdem ist ja klar, dass die Jugendlichen auch an der EBU ihren Schulabschluss – Hauptschule oder Mittlere Reife – machen können.“

„Kaum ein Kind will zurück“, bestätigt auch Detlef Eriksson, der seit sieben Jahren an der EBU Breslauer Straße tätig ist. Die Haltung, die er bei der Führung durch die Räume an den Tag legt, zeugt von Empathie und Begeisterung für die Kinder, mit denen Eriksson zu tun hat: „Jedes Kind kann etwas, jedes hat etwas Besonderes. Und alle brauchen das Gefühl, so wie sie sind, willkommen zu sein. Auch den Eltern tut es gut, das mitzuerleben. Früher bekamen sie nur Anrufe aus der Schule, weil ihr Kind sich mal wieder unmöglich benommen hat. Heute freuen sie sich, weil wir eigentlich nur anrufen, um etwas Organisatorisches mitzuteilen oder sie z.B. zum Grillfest einzuladen.“

„Das war ein guter Tag!“
Eriksson beschreibt einen typischen Tag in der EBU Breslauer Straße, wo die Kinder von 8 bis 16 Uhr aufgehoben sind. Dem Unterricht gehört der Vormittag, das Mittagessen wird von einem Caterer geliefert, nachmittags finden unterschiedliche Angebote statt. Da geht es ins Schwimmbad, in den Garten, in den Wald, es wird gebastelt und im Werkraum gearbeitet. Es gibt einen Raum, in dem man sich sportlich ein bisschen austoben kann und einen Rückzugsraum, der ganz mit Matten gepolstert ist, auch an den Wänden. Nicht selten muss sich eine der sozialpädagogischen Kräfte mit einem einzelnen Kind beschäftigen, das kann auch morgens während der Unterrichtszeit vorkommen. Das ist kein Problem, und wird nicht als Fehlverhalten qualifiziert. Wichtig ist nur, dass die Kinder lernen, zu zeigen oder auszusprechen, wenn sie mit einer Situation nicht zurechtkommen. Wenn das gelingt, ist es ein Erfolg. Überhaupt legen die Lehr- und Betreuungskräfte vor allem Wert darauf, anzuerkennen, wenn etwas gelingt. Das zeigt eine Wandtafel mit dem Titel „Reflexion“. Hier hängen verschiedene Zettel mit Aussagen, die ein konstruktives Verhalten beschreiben: Reden, Konflikte mit Worten lösen, sich kümmern, Hilfe holen, aufeinander aufpassen. In der täglichen Reflexionsphase kann jedes Kind anhand dieser Zettel überlegen, was es heute gut gemacht hat. „Es ist total wichtig“, sagt Martina Tonollo, „dass die Kinder nach Hause gehen mit dem Gefühl: Das war ein guter Tag. Für jedes Kind kann so ein Tag unterschiedlich aussehen. Daher wird für jedes Kind ein individueller Betreuungs- und Beschulungsplan erstellt, orientiert an dem was möglich ist.

„Der Kreis Groß-Gerau hat mit EBU etwas geschaffen für Kinder, die sonst vielleicht durch das System gerutscht wären“, stellt Martina Tonollo fest. Kinder und Jugendliche mit sozial-emotionalem Förderbedarf kommen aus bunt gemischten Verhältnissen, einige auch aus bildungsfernen Elternhäusern. Auffallend ist der hohe Anteil von Jungen mit fast 90 Prozent, einige leben mit nur einem Elternteil zusammen. „Die Eltern wissen oft nicht, wie Erziehung eigentlich geht“, erklärt Daniel Rink, „zum Beispiel, wie wichtig es ist, Grenzen zu setzen. Grenzen können Halt und Orientierung geben. Viele der Kinder waren vor allem sich selbst überlassen. EBU bedeutet für sie eine Chance auf dem Weg ihrer Entwicklung und wir dürfen sie ein Stück begleiten.

Foto: Das Team der EBU-Mittelstufe

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  • Inklusion...

    ...bedeutet für mich, dass man alle Menschen wieder mehr zusammenführt. Wenn alle aufmerksam und hilfsbereit miteinander umgehen, dann geht es allen auch seelisch besser. 

    Inklusion...
    Virginia Dindore
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