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Ein weiter Baum werden

09.10.2017 | Marlene Broeckers

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Marlene Broeckers

Texterin der NRD

Ein weiter Baum werden

Im Haus Sonnenhof 2 in Nieder-Ramstadt sind große Veränderungen vor sich gegangen. Das ehemalige Sammelbecken für Menschen mit Delinquenz hat sich zu einem angenehmen Wohnort entwickelt, seit nunmehr fast einem Jahr gab es keine Krise. Zweierlei hat sich verändert: Das Haus wurde umgebaut und das siebenköpfige Team unter Leitung von Thorsten Kolb arbeitet nach einer speziellen Konzeption, welche auf das Klientel zugeschnitten ist. „Wir bewegen uns damit in Richtung junge Wilde“, sagt Thorsten Kolb.

„Junge Wilde“ – dieser Begriff hat sich in den vergangenen zehn Jahren in der Behindertenhilfe etabliert. Er beschreibt junge Erwachsene mit leichten Lernbehinderungen und schwierigen Verhaltensweisen. Sie scheinen endlos in Konflikte verstrickt zu sein. Was sie sich dringend wünschen, ist Anerkennung, Freundschaft, Erfolg und Bestätigung. Aber ihr oftmals sehr impulsives, unkontrolliertes und aggressives Verhalten führt dazu, dass sie ständig anecken, abgelehnt werden und als „Systemsprenger“ von Institution zu Institution weitergereicht werden. So landen sie schließlich in Einrichtungen der Behindertenhilfe, die Konzepte entwickeln und Strukturen aufbauen müssen, um Lösungen möglich zu machen. In der NRD gibt es bislang zwei Wohngruppen für „junge Wilde“, eine davon ist der „Sonnenhof 2“ in Nieder-Ramstadt.

„Sie sind unter den zwölf Bewohnern – elf Männer und eine Frau – nicht in der Mehrzahl. Es ist eine Handvoll, die auch aufgrund ihres Alters zu den ‚jungen Wilden‘ gehört“, sagt Thorsten Kolb, „sie wohnen hier zusammen mit einigen Älteren, die zum Teil schon sehr lange auf dem Landwirtschaftsbetrieb ‚Sonnenhof‘ arbeiten.“

Warum gibt es zunehmend „junge Wilde“? Zweifellos hängt dies mit unserer Leistungsgesellschaft zusammen, die immer mehr Druck auf Menschen erzeugt, erfolgreich zu sein. Benachteiligte Kinder, die sich als „mangelhaft“ erleben und emotional überlastet sind, entwickeln nicht selten das Wildsein als Überlebens-Strategie. Sie treten als starke Löwen auf, obwohl sie eigentlich furchtsame, kleine Kätzchen sind.

Voraussetzung für eine sinnvolle Arbeit mit diesen Bewohnern war zunächst ein Umbau des Hauses. Vorher hatten sich im 1. Obergeschoss fünf Einzelzimmer um einen kleinen Flur herum gruppiert, im 2. Stock waren es sechs. Jetzt sind auf drei Geschossen fünf Wohnungen für insgesamt zwölf Personen entstanden: Zwei Einzelapartments, zwei Dreier- und eine Vierer-WG. Alle Wohnungen sind ausgestattet mit Küchen, Bädern und Waschmaschinen. Im Erdgeschoss gibt es neben den rein privaten Wohnbereichen – den Einzel-Apartments – einen größeren Wohnraum, in dem Gruppenaktivitäten stattfinden. Das schöne Außengelände mit nächster Nähe zu Wald und Feld lädt dazu ein, sich im Freien aufzuhalten und sich bei Bedarf auch auszutoben.

Junge Wilde treten als starke Löwen auf, obwohl sie eigentlich kleine, furchtsame Kätzchen sind.
 

Wertschätzung vermitteln

Im Fortbildungsinstitut der Professoren Ernst Wüllenweber und Georg Theunissen bilden sich Thorsten Kolb und seine sechs Teammitglieder weiter. Wesentlich ist dabei die Krisenintervention und Deeskalation bei gravierenden Verhaltensauffälligkeiten. Wie auch immer die Auffälligkeiten aussehen, die die jungen Erwachsenen zeigen – „es gilt, generelle Wertschätzung zu vermitteln“, sagt Thorsten Kolb. Damit dies gelingen kann, muss die Beziehung zum einzelnen Klienten im Mittelpunkt stehen. „Natürlich ist es schwierig, eine Beziehung aufzubauen mit Menschen, die eher gelernt haben, dass sie nichts und niemandem vertrauen können und vor allem kein Selbstvertrauen haben, weil sie immer wieder erleben, dass sie sich selbst nicht im Griff haben.  Doch es muss gelingen, eine echte Beziehung aufzubauen, damit mir jemand glaubt, wenn ich ihm versichere, dass er oder sie mir wichtig ist.“

Will man also einzelne Verhaltensweisen ansprechen, die nicht akzeptabel sind, muss es gleichzeitig wertschätzende Signal geben, die den Menschen insgesamt erreichen, sonst besteht die Gefahr, dass dieser sofort resigniert und denkt: Ich bin nichts wert. „Denn diese Menschen erleben sich von klein auf als Problem und behandlungsbedürftig“, so Thorsten Kolb. Beziehungen aufzubauen, das braucht Zeit und es erfordert gemeinsame Aktivitäten. „Hilfreich ist auch die Stabilität im Team“ so Kolb.

Wie sieht die Arbeit mit Klienten, die zum Teil auch in „Nacherziehung“ besteht, konkret aus? „Ich nehme sehr ernst, was ‚bedarfsgerechte Betreuung‘ genannt wird“, sagt Kolb. „Unsere Dienstpläne sehen so aus, dass die Grundversorgung abgedeckt ist und möglichst viel Zeit für individuelle Begleitung bleibt. Diese nennen wir vereinbarte Zeit. Mit jedem Einzelnen wird besprochen, was er sich wünscht. Dann werden konkrete Vereinbarungen getroffen und es liegt in der Verantwortung einzelner Mitarbeiter, diese umzusetzen. Ein Mitarbeiter geht also nicht mit dem Bewohner A ins Kino, weil er Dienst hat, sondern er hat Dienst, weil er mit dem Bewohner ins Kino geht.“  Möchte einer lieber drei Tage lang mit 1:1-Begletung in Freizeit fahren, als eine Woche in einer Gruppe mit sechs Personen, dann müssen wir demjenigen klarmachen, dass das möglich ist, dass die Betreuungszeit aber nicht unbegrenzt zur Verfügung steht und daher Prioritäten gesetzt werden müssen. Wir haben einige Menschen hier, die erklärte Einzelgänger sind und die drei Tage mit ihrer Wunschbegleitung sehr genießen.“

Eine andere Form bedarfsgerechter Betreuung: Für einen Bewohner wurde im Frühjahr 2016 eine Einzelbetreuung mit dem Kostenträger vereinbart. Diese dauert bis heute an und führte zu einem Neustart in einer anderen Werkstatt der NRD. Durch den Umbau wurde es möglich, dass dem Bewohner, der sehr viel Rückzug braucht, ein Einzel-Apartment angeboten werden konnte. Und es wurde mit ihm eingeübt, sich dorthin zurückzuziehen, wenn er mit der Situation emotional überfordert ist, ohne dass er damit eine Strafe – rausgeworfen werden – verknüpft.

Thorsten Kolb, Teamleiter im "Sonnenhof 2", legt im Dienstplan Vereinbarungszeiten für jeden Bewohner fest.
Thorsten Kolb, Teamleiter im "Sonnenhof 2", legt im Dienstplan Vereinbarungszeiten für jeden Bewohner fest.

Viel mehr Ruhe im Haus

In den drei Wohngemeinschaften haben sich Personen zusammengefunden, die sich mögen und vertragen. Oft werden Frühstück und Abendessen in der WG eingenommen. „Vorher waren 14 Personen beim Essen zusammen, unter anderem auch solche, die sich gegenseitig nicht ausstehen können“, berichtet Thorsten Kolb, „es ist wirklich kein Wunder, wenn so etwas nicht funktioniert.“
Auch wenn die meisten Hausbewohner stark auf die Mitarbeitenden fixiert sind, etablieren sich allmählich die beiden Dreier- und die Vierer-WG mehr und mehr zu eigenen kleinen Gemeinschaften. Insgesamt ist viel mehr Ruhe im Haus, denn es gibt dank der getrennten Wohnverhältnisse und aufgelösten Zwangsgemeinschaften viel weniger Konfliktpotential.

Regeln sind wichtig, denn sie schützen den Einzelnen wie auch die Gemeinschaft. Diesem grundlegenden Verständnis gesellt sich in vielen Bereichen der NRD, die mit einer speziellen Klientel arbeiten, zunehmend die funktionale Sicht auf besondere Verhaltensweisen von Klienten zu: Auch wenn ein Verhalten „schwierig“ erscheint, gilt es, die dahinterstehende Botschaft, das verdeckte Bedürfnis eines Menschen zu spüren und darauf zu antworten. „So können entwicklungsfreundliche Beziehungen entstehen“, sagt Thorsten Kolb mit Bezug auf ein Buch von Dr. Barbara Senkel, Dozentin an der Fachhochschule für Heilerziehungspflege und Heilpädagogik der Diakonie Stetten. Eines ihrer Bücher trägt den Titel „Du bist ein weiter Baum“ und behandelt die Frage, wie Beziehungen zu Menschen mit Beeinträchtigung so gestaltet werden können, dass sie heilsam wirken und die Persönlichkeitsentwicklung fördern. Sehr passend zitiert Senkel auf ihrer Homepage zur entwicklungsfreundlichen Beziehung ein Gedicht des türkischen Dichters Nazim Hikmet:

Leben wie ein Baum,
einzeln und frei,
doch brüderlich wie ein Wald,
das ist unsere Sehnsucht.

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