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Eine Stunde spielend lernen

07.08.2018 | Marlene Broeckers

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Marlene Broeckers

Texterin der NRD

Eine Stunde spielend lernen

Eine Kiste mit Spielsachen ist gepackt, Susanne Pries ist startklar. Die Motologin ist eine der sechs pädagogischen Mitarbeiterinnen der Frühförder- und Beratungsstelle der NRD in Groß-Gerau. Heute steht unter anderem ein Hausbesuch in Mörfelden auf ihrem Tagesplan. Noah[1] ist eines von zehn Kindern, die Susanne Pries derzeit mit Hausbesuchen begleitet. Für NRD bewegt! darf Marlene sie begleiten, um Einblick in die konkrete Arbeit zu nehmen.

Wir starten an einem Donnerstag Anfang Mai um 13 Uhr. Auf der Fahrt nach Mörfelden macht Susanne Pries mich mit der Situation des dreijährigen Noah und seiner Familie bekannt. Seit Februar wird die Familie von der Frühförderstelle begleitet und seitdem gab es zehn Hausbesuche. Susanne Pries gehört seit fünfeinhalb Jahren zum pädagogischen Team der Frühförderstelle. Vorher hat sie in Marburg Motologie studiert. Die Motologie ist eine neue, aus der Psychomotorik entstandene, persönlichkeits- und ganzheitlich orientierte Wissenschaft, die sich mit der Beziehung zwischen körperlicher Bewegung und Psyche befasst.

Diagnose steht noch aus

Eine klare Diagnose für Noah gibt es noch nicht. Diese erhofft sich die Familie von der Untersuchung im Sozialpädagogischen Zentrum Frankfurt. Bei Noah scheint eine Entwicklungsverzögerung vorzuliegen. Er spricht nicht, sucht wenig Blickkontakt und spielt in der Kita, die er seit Kurzem vormittags für einige Stunden besucht, nur alleine. Nach den sechs bis acht Kennenlern-Terminen, die seit Februar stattgefunden haben, ist Susanne Pries sicher, dass es sinnvoll ist, die häusliche Begleitung noch eine Zeitlang fortzusetzen, bevor man versucht, Noah in eine Gruppe zu integrieren. „Er ist jetzt in einer Explorationsphase“, sagt Susanne Pries, „er erkundet mit großem Interesse seine Umgebung und die Dinge, die er darin vorfindet.“

Ein sehr lebendiger und fröhlicher Junge öffnet uns die Wohnungstür, als wir den 3. Stock des Mehrfamilienhauses in Mörfelden erklommen haben. Noah ist um diese Zeit mit seiner Mutter alleine in der Wohnung. Seine jüngere Schwester ist mit ihrer Tante spazieren gegangen, die mit der Familie zusammenlebt, der Vater arbeitet außer Haus. Noah klopft mit beiden Händen auf seine Oberschenkel, als er Susanne Pries sieht. „Das hat mit dem Lied zu tun, das wir am Ende jeder Stunde zusammen singen“, erklärt die Pädagogin. Es handelt sich um „Aramsamsam“, das bekannte Bewegungslied für Kinder, das ursprünglich aus Marokko stammt: Abwechselnd schlägt man sich dabei im Takt auf die Beine, dreht die Hände umeinander, klatscht und wirft die Arme hoch.

Noah weiß also genau, was ihn erwartet: Eine Stunde arbeiten mit Susanne Pries. Mutter Tselote* ist auch dabei. Sie nimmt sich frei in ihrem Job bei einer Reinigungsfirma in Frankfurt, denn es ist ihr wichtig, zu sehen, was die Pädagogin mit ihrem Sohn macht. Sie nutzt die übrigen Tage der Woche, um einzelne Spiel aufzugreifen und mit Noah weiterzuüben.

Feinmotorik: Knöpfe auffädeln

Erstes Spiel: Noah soll unterschiedlich große Knöpfe und andere Formen aus Plastik oder Holz auf einen dicken Schnürsenkel auffädeln. Dazu ist feinmotorisches Geschick erforderlich. Er muss das Loch treffen, das verstärkte Fadenende hindurchstecken, dann umgreifen, um den Faden weiterzuschieben, dann die andere Hand benutzen, um den Faden vollends durchzuziehen. Mal klappt das gut, mal weniger gut, doch das Kind hat sichtlich Geduld und eine Zeitlang auch Lust, es immer wieder neu zu versuchen. Bevor das nächste Spiel beginnt, wird aufgeräumt. Auch das hat Noah schon gelernt. Er hilft, alle Knöpfe in eine Tüte zu sammeln, packt diese in eine kleine Plastikkiste, macht den Deckel fest drauf, fertig. 

Zweites Spiel: Noah soll ein kleines hölzernes Auto, das aus drei beweglichen Teilen besteht, auf eine Art Kugelbahn setzen. Gelingt das richtig, dann fährt das Auto – klack, klack, klack – in schnellem Tempo herunter. Immer wieder hilft Susanne Pries dem Kind, das Auto richtig zu platzieren. Manchmal schafft er es auch alleine. Ist das Auto unten angekommen, ruft er „Ja!“ und schaut seine Mutter an. Diese lobt ihn mit einem aufmunternden Lächeln.

Das Telefon klingelt. Ruck, zuck ist Noah auf den Beinen, rennt zum Sofa, springt hinauf und beugt sich in den Zwischenraum zwischen Sofa und Wand, wo das Telefon steht, um den Hörer aufzunehmen. Eine sehr aufgeweckte und altersgerechte Aktion. Doch Noah hält sich nur den Hörer ans Ohr, hineinsprechen kann er nicht. Die Mutter übernimmt und spricht mit ihrem Mann.

Vor zehn Jahren kamen Tselote und ihr Mann von Äthiopien nach Deutschland. Sie sind Christen wie viele Menschen in Äthiopien. Beide können gut Deutsch, sprechen aber miteinander und auch mit den Kindern gern ihre Muttersprache Amaharisch. „Mein Vater fiel einem politischen Mord zum Opfer, als ich fünf Jahre alt war“, berichtet Tselote, „ kurz darauf verschwand meine Mutter. Wir wissen bis heute nicht, wo sie ist. Ich bete immer, dass ich sie eines Tages wiedersehen darf.“

Auch wenn sie etwas so Trauriges erzählt, tut sie das mit einem Lächeln im Gesicht. „Wir sind so froh über die Arbeit der Frühförderstelle“, sagt sie, „Noah hat schon viele Fortschritte gemacht. Er hatte sehr wenig Ausdauer, das ist jetzt schon viel besser.“

Balance finden

Das dritte und letzte Spiel: Noah soll auf vier kleinen Hockern laufen und muss dafür die Balance halten und größere Schritte über einen kleinen „Abgrund“ wagen. Immer wieder bückt er sich und stützt sich mit den Händen ab. Aber das soll er nicht, wie Susanne Pries ihm zeigt. Er soll sicher auf dem Standbein stehen und dann den ersten Schritt machen, dann wieder festen Stand finden und das andere Bein nachziehen. Nach einer kurzen Pause – Noah braucht eine frische Windel – geht es weiter, und plötzlich besser. Jetzt läuft Noah barfuß und hat dadurch eine bessere Balance. 

Aber er ist auch müde. Immer wieder schweift sein Blick vom Spiel ab, immer wieder kuschelt er sich bei seiner Mutter an. Doch diese ist sich mit Susanne Pries einig: Diese 60 Minuten sind kostbar und sollen genutzt werden. Mit dem rituellen „Aramsamsam“ endet die Stunde. Mutter und Pädagogin singen es alleine, denn Noah ist jetzt sehr müde. Er wird munter, als er vom Treppenhaus die Stimme seiner Schwester hört. Er rennt los, um sie hereinzulassen.

Frühförder- und Beratungsstelle der NRD in Groß-Gerau: Die Nachfrage ist konstant bis steigend

Susanne Pries betreut insgesamt 30 Familien, zehn davon zurzeit durch Hausbesuche. Diese sind für Kinder mit Förderbedarf zwischen null und sechs Jahren möglich und für die Familien kostenlos, sofern sie vom Kostenträger – dem Landkreis Groß-Gerau – bewilligt werden. Mit den übrigen 20 Kindern kommt sie in zwei Psychomotorik-Gruppen und einer Schulvorbereitungs-Gruppe zusammen. 

Insgesamt betreute die Frühförder- und Beratungsstelle der NRD im vergangenen Jahr 148 Familien, etwa 80 Prozent davon durch mobile Förderung und Beratung. Für rund 100 Kinder wurden heilpädagogische Fachberatungen in Kindergärten durchgeführt.

Rund die Hälfte der Klient*innen sind Familien mit Migrationshintergrund. Dies erschwert zum Teil die Verständigung. Manchmal müssen im Interkulturellen Büro Groß-Gerau Dolmetscher angefordert werden, oft gibt es aber auch in den Familien jemanden. „Für die Arbeit mit ausländischen Familien ist eine kultursensitive Haltung erforderlich“, sagt Jutta Babion, die Leiterin der Frühförderstelle, „alle Mitarbeitenden haben entsprechende Schulungen gemacht.“

Eine relativ große Gruppe der zu betreuenden Familien (22 %) sind solche mit früh geborenen Kindern. Bei ihnen ist anfangs die Beratung und Unterstützung der Eltern besonders wichtig. Häufige Themen sind die Verarbeitung der oft als traumatisch erlebten Zeit der ersten Monate im Kontext der Intensivmedizinischen Versorgung der Kinder (Operationen, Monitorüberwachung, Beatmung, Trennung von Mutter und Kind) und die Sorge, wie sich das Kind entwickeln wird, ob es den Entwicklungsrückstand aufholen wird, sowie Themen rund um die Ernährung, Schlaf-Wach-Rhythmus und andere. In etwa 10 % der Fälle geht es um Kinder mit dem Verdacht Autismus-Spektrums-Störung. Wenn die Diagnose gestellt wird, empfiehlt die Frühförderstelle den Kontakt zu einem regionalen Autismus-Therapie-Institut. Sobald dort ein Therapieangebot für die Kinder zustande kommt, muss die Frühförderung beendet werden. 

Die Nachfrage nach Frühförderung ist konstant bis ansteigend hoch. Somit entstehen teilweise lange Wartezeiten von rund sechs Monaten. Kostenträger sind der Kreis Groß-Gerau, der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) und das Land Hessen.

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