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Schön, dass sich jemand für meine Geschichte interessiert

08.06.2015 | Andreas Nink

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Andreas Nink

Leiter der Abteilung Kommunikation und Fundraising der NRD

Schön, dass sich jemand für meine Geschichte interessiert

Viele Menschen haben ihr ganzes Leben in den "Nieder-Ramstädter Heimen" verbracht. Es ist für sie nicht leicht, sich ihrer Lebenserinnerungen zu vergewissern. Kathrin Benz von der Stabsstelle Biographiearbeit der NRD erarbeitet mit derzeit 55 Bewohnern deren Lebensgeschichten. Dabei werden nicht nur Erinnerungen wach und für die betroffene Person in einem  eigenen Buch festgehalten. Das Erinnern hilft auch, die eigenen Wünsche zu formulieren und das künftige Leben zu planen.

Kathrin Benz sieht aus, als sei sie für eine ausgedehnte Reise gerüstet. Sie trägt eine große Tasche und zieht einen riesigen Rollwagen hinter sich her. Aber Kathrin Benz macht nicht etwa Urlaub, sie ist an der Arbeit. Das Gepäck enthält wichtige Utensilien, die sie dafür braucht. Das sind: ein Teddybär; viele, viele Bücher, darunter sehr alte; ein Weltatlas von 1938; Haushaltsgegenstände; Spielsachen; Gesangbücher. Was macht sie bloß damit?

Kathrin Benz bekleidet die Stabsstelle Beratung und Biographiearbeit der NRD. Was so abgehoben klingt, ist eine sehr konkrete und lebenspraktische Sache: Die 43 Jahre alte Diplompädagogin erarbeitet Lebensgeschichten mit Menschen, die schon sehr lange, teilweise ihr ganzes Leben, in der NRD verbracht haben. Derzeit besucht sie 55 Personen in kleineren und größeren Abständen und unterschiedlicher Intensität.

Jeder Mensch hat eine Geschichte. Dank Familie oder Freunden, mit Hilfe von Büchern, Zeugnissen, Photographien und nicht zuletzt dank der eigenen Erinnerungen sind sich die meisten Menschen der eigenen Geschichte bewusst – mehr oder weniger.

Menschen mit Einschränkungen, wie sie in der NRD betreut werden, fällt es oftmals nicht so leicht, sich ihre eigene Lebensgeschichte zu vergegenwärtigen. Sie konnten nur spärlich Erinnerungsstücke anhäufen, denn wer in einem Heim lebte, hatte wenig eigenen Raum zur Verfügung, kaum Geld, und kein eigenständiges Leben.

Aufgeweckte Erinnerung

Als 2009 das 100jährige Bestehen des Hauses Bodelschwingh der NRD gefeiert wurde, geschah dies natürlich mit einem Blick auf die Geschichte. Das ehemalige Männerhaus begann sich zu diesem Zeitpunkt bereits zu leeren, ein Teil der Bewohner war im Rahmen der Regionalisierung bereits ausgezogen, die Verwaltung noch nicht eingezogen.

Zusammen mit dem damaligen Hausleiter Dirk Tritzschak hat Kathrin Benz seinerzeit das Konzept für die Ausstellung „Leben im Wandel der Zeit“ im 1. Obergeschoss des Bodelschwingh-Hauses entwickelt und umgesetzt. Durch die Räume lief ein Band mit Jahresangaben von 1899 bis in die Gegenwart, es waren viele historische Bilder zu sehen. Ein Raum wurde in ein ehemaliges Bewohnerzimmer zurückverwandelt. In jenen alten Zeiten, die noch gar nicht so lange her sind, standen so viele Betten in den Zimmern, dass kein Platz mehr für die Schränke mit der Kleidung und anderen privaten Dingen war. Die Schränke wurden in den Fluren aufgestellt. Man muss sich daran erinnern, dass im Bodelschwingh-Haus einst bis zu 220 Menschen lebten. 

Die Ausstellung wurde mit Interesse besucht. Bewohner standen vor den Fotos und trugen gemeinsam ihre Erinnerungen zusammen. Was war denn eigentlich früher? Das Thema war plötzlich präsent.

Die NRD griff das Interesse vieler Bewohner auf und startete ein Projekt, um die Geschichte zu erforschen. Wie lebten und arbeiteten die Menschen in den Nieder-Ramstädter Heimen? Erstmals kamen Bewohner zu Wort, und was sie berichteten, war zum Teil erschütternd. Viele Erfahrungen mündeten in das im April 2014 veröffentlichte Buch „Aussortiert. Leben außerhalb der Gesellschaft“.

Dinge erzählen Geschichten

Neben der Aufarbeitung der Geschichte für die gesamte NRD blieb jedoch der Wunsch vieler Bewohner, der eigenen Lebensgeschichte nachzuspüren. Um diesen Wunsch zu erfüllen, wurde Kathrin Benz beauftragt. „Endlich interessiert sich jemand für meine Geschichte“, sagt Anneliese Osterfeld. Die 94jährige lebt schon ewig in der NRD, sie hatte damals als Küchenhilfe begonnen.

Über die individuellen Lebensgeschichten der Menschen, die in der NRD leben, ist oft nur wenig bekannt. In der Vergangenheit, als die Ärzte, und nicht die Pädagogen, die Betreuung organisierten, wurden Krankenakten angelegt. Auf die kann Kathrin Benz zurückgreifen, daneben auf ehemalige und heutige Mitarbeiter. Aber in erster Linie arbeitet sie mit dem Menschen selbst, um dessen Biographie es geht.

Den Blick auf das Leben erleichtern Gegenstände, manifestierte Erinnerungen. Jeder Mensch besitzt das ein oder andere, und sei es noch so klein und scheinbar ohne Wert. Diese Gegenstände erzählen ihre Geschichte durch die Person - auch die des Mannes wird beredet, der nur in Einwortsätzen sprechen kann. Die alte Dame jedoch, die in ihrem Zimmer einen großen Koffer aufbewahrt, will, dass dieser verschlossen bleibt. Er ist gefüllt mit ihren Erinnerungen, sagt sie. Aber der Deckel bleibt zu. Also kann der Inhalt des Kofferst nicht in die Erinnerungsarbeit einfließen.

Und so bringt Kathrin Benz ihre Koffer mit. Die vielen Materialien darin unterstützen sie. Sie helfen dem Bewohner, sich zu erinnern. Deshalb die Liederbücher: Kathrin Benz stimmt ein Lied an – löst es etwas aus? Sie legt ein Kinderbuch vor, aus der Zeit, in der ihr Gegenüber selbst Kind war – ist es bekannt? Sie zeigt Bilder. Etwa das Bild eines Pferdes. Vielleicht lautet die Reaktion darauf: Ja, ich bin einmal auf einem Pferd geritten, als ich klein war.

Kathrin Benz hat viel Material gesammelt. Sie weiß mittlerweile sehr gut, was geeignet ist, um ins Gespräch zu kommen. So setzt sie gerne einen ganz besonderen Bildband mit Filmplakaten von Kinofilmen aus den 60er und 70er Jahren ein. Und oft heißt es dann: „An diesen Film erinnere ich mich.“ Männer interessieren sich für Autos. Ein Buch mit Bildern und Beschreibungen berühmter Automobile trug der Motorjournalist Fritz B. Busch zusammen. Auch dieses Buch dient dazu, Erinnerungen aufzuspüren, Assoziationen zu wecken.

Oft verwendet Kathrin Benz Bücher mit Bildern über Darmstadts Nachkriegsgeschichte. Oder einen alten Weltatlas mit Namen von Orten, die in neuen Atlanten nicht mehr zu finden sind, Namen deutscher Orte in Gebieten, die heute zu Polen oder zu Russland gehören. Einige ihrer Gesprächspartner sind Kriegskinder, die die Vertreibung miterlebten. Mit Hilfe des alten Atlanten erinnern sie sich vielleicht an die Orte ihrer Kindheit.

Was bei der Biographiearbeit herauskommt, ist kein lückenloser Lebensbericht. Es entstehen vielmehr Fragmente, sogenannte Biographie-Fenster. Bei Menschen, denen die gesprochene Sprache nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung steht, setzt Kathrin Benz die Symbole der sogenannten Unterstützten Kommunikation ein. Und natürlich ist die Sprache nicht das einzige Medium, das zum Einsatz kommt. Vieles kommt auch malerisch zustande, Erinnerungssplitter fügen sich zu Bildern zusammen.

Handliches Lebensbuch

Ganz wichtig an dieser Arbeit ist: Es gibt auch ein Ergebnis zum Anfassen und Aufbewahren. Die Fotos, die gemalten oder gezeichneten Bilder, die Gedichte und Texte werden gemeinsam in ein persönliches Lebensbuch aufgenommen, das der Bewohner am Ende der Arbeit erhält. Dieses Buch ist handlich und robust, damit es lange hält und immer wieder in die Hand genommen werden kann. „So ein Lebensbuch“, sagt Kathrin Benz, „kann schon mal 104 Seiten stark sein.“

Die Beschäftigung mit dem eigenen Leben ist beileibe nicht nur Rückschau auf die Vergangenheit. Die Erinnerung, die das Bild eines Pferdes auslöst, weckt unter Umständen gleichzeitig auch den Wunsch, wieder reiten zu können. Anders gesagt, dient die Biographiearbeit nicht nur der Erinnerung, dem Wunsch, über das vergangene Leben eine Bilanz zu ziehen. Sie dient auch der weiteren Lebensplanung, der Vergewisserung über die Ziele, die man verfolgen möchte. Und schließlich erleichtert sie den Betroffenen, das gegenwärtige Leben einzuordnen, es mit Vergangenheit und Zukunft zu verknüpfen.

Und so ist Kathrin Benz tatsächlich auf einer großen Reise. Sie ist ständig unterwegs mit ihren Gesprächspartnern, auf der gemeinsamen Reise durch ihre Leben.

Anneliese Osterfeld und Katrhin Benz 
Anneliese Osterfeld und Katrhin Benz

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  • Inklusion...

    ...bedeutet für mich, dass man alle Menschen wieder mehr zusammenführt. Wenn alle aufmerksam und hilfsbereit miteinander umgehen, dann geht es allen auch seelisch besser. 

    Inklusion...
    Virginia Dindore
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