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"Hans Dampf" schaut zurück

03.04.2017 | Marlene Broeckers

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Marlene Broeckers

Texterin der NRD

"Hans Dampf" schaut zurück

„Jetzt hab‘ ich viel weniger Wut. Und auch weniger Depression. Es war gut, dass ich da war.“ So bedankte sich Raffaele Stauch Ende Februar telefonisch für die zwei Tage in Nieder-Ramstadt. In diesem Moment war er schon fast wieder zu Hause in Bozen, wo er seit über 30 Jahren lebt und arbeitet. Mehr als 15 Jahre seines Lebens hat er in Heimen verbracht, sechs davon in den damaligen Nieder-Ramstädter Heimen. 1982 ging er weg, um frei zu sein.

Das „Haus Magdala“ wollte er noch einmal von Innen sehen. Auf der Durchreise war Raffaele Stauch, 55, Anfang Januar schon einmal in Nieder-Ramstadt ausgestiegen und hatte gehört, das Haus werde bald abgerissen. Ende der 1970er Jahre musste Raffaele Stauch, der damals noch Ralf mit Vornamen hieß, nach zwei Jahren in der „Mühle“ ins „Haus Magdala“ umziehen. „Das war schlimm“, erzählt Raffaele, der gern bei seinem italienischen Vornamen genannt und geduzt werden möchte.

Es ist nicht ganz leicht, seine Geschichte zu verfolgen, denn er erzählt nicht unbedingt der Reihe nach. An zwei Tagen im Februar, jeweils mehrere Stunden, kommt einiges zusammen.

Vertrauens-Check

„Aber erst mal will ich von Dir wissen: Wie geht es dir denn, wenn du dran denkst, wie es früher hier war?“, fragt er. Ich berichte ihm von dem Buch, das die NRD 2014 herausgegeben hat: „Aussortiert“. Menschen, die in den Nachkriegs-Jahrzehnten in den „Heimen“ gewohnt und gearbeitet haben, erzählen darin selbst, wie es gewesen ist. Raffaele findet das „stark“. Er blättert im Buch, erkennt einige Gesichter wieder. Und fasst Vertrauen.

Von 1976 bis 1982 hat Raffaele Stauch in den Heimen gelebt. Eine geistige Behinderung hat er offensichtlich nicht. Er ist Unternehmer im Ein-Mann-Betrieb, seine Reinigungsfirma ist in Österreich angemeldet. Dort und vor allem in Bozen, wo er wohnt, reinigt er Fenster und vieles andere, was zu reinigen ist.

Von Heim zu Heim

Wie kam er in die Nieder-Ramstädter Heime und warum? Raffaele Stauch erzählt: „Ich bin in Darmstadt geboren. Mein Vater hatte einen Malerbetrieb. Ich habe immer gehört, dass ich mit einem 80-prozentigen zerebralen Hirnschaden auf die Welt gekommen bin. Ich wurde mit acht, neun Jahren zuerst in ein heilpädagogisches Kinderheim in Hettingen gegeben. Von da zum „Kalmenhof“ nach Idstein, dann Marburg und wieder ins Kinderheim. Dann wieder nach Hause. In Darmstadt ging ich in die Niebergall-Schule. Ich hatte drei sehr gute Lehrerinnen und gute Noten. Zuletzt eine schlimme Lehrerin. Auf einmal hatte ich ganz schlechte Noten im Zeugnis. Da wollte ich nicht mehr nach Hause, weil sie mich dort nicht gut behandelt haben. Ich bin viel geschlagen worden und war immer an allem schuld. Ich hatte Angst, heim zu gehen und bin einfach in einen Zug gestiegen. Nach Cuxhaven wollte ich. Da hatten wir mal mit der Schule einen Ausflug hin gemacht. Also dachte ich, da fährst du hin. Mein Vater hat mich über HR 3 suchen lassen und in Bad Soden fand mich die Polizei. Sie fuhren mit mir nach Hause und merkten, dass es mir da nicht gut geht. Sie haben dann mit dem Jugendamt gesprochen. Und so kam ich 1976 in die Heime. Mein Vater hat geholfen, dass ich einen Platz in der Mühle bekam. Eigentlich konnten sie da niemanden mehr aufnehmen. Aber mein Vater hat angeboten, ein paar Zimmer zu renovieren - da war alles Schrott – und so bekam ich ein Einzelzimmer und durfte es sogar selbst einrichten.

In der Mühle habe ich mich wohlgefühlt. Die Kramms waren die Hauseltern und sie waren nett zu mir. Nach zwei Jahren hieß es, dass ich nach „Magdala“ umziehen soll. Das wollte ich nicht, aber ich musste. Ich war auf Magdala 3 dann in einem Dreierzimmer. Ich wusste nicht, was ich da zu suchen hatte. Irgendwann hieß es dann, ich ziehe um in die Stiftstraße 11. Und 1982 bin ich dann einfach weg.

Was haben die Heime für mich bedeutet? Morgens hieß es: „Guten Morgen. Aufstehen!“ Und dann habe ich meine Sachen gemacht. Am längsten war ich im Fuhrpark, das hat mir gefallen. Dafür habe ich 16 Mark im Monat bekommen. Nichts wurde in die Rente einbezahlt. Und die Heime – habe ich mir mal ausgerechnet – haben 180.000 Mark dafür bekommen, dass ich sechs Jahre hier war.“

Nach Süden

Fünf Jahre hat Raffaele Stauch sich ab 1982 in Mainz durchgeschlagen, bevor er nach Bayern und schließlich nach Italien aufbrach. „Der Süden, Italien, das war mein Gefühl, das ich dahin soll.“ In Bozen war er beim ersten Mac Donalds als Hilfskraft lange in der Küche, bis mir einer sagte: Du kannst doch mehr. Mach dich selbstständig!

So wurde Raffaele Stauch Unternehmer in Sachen Reinigung. Seinen Vornamen hat er in Italien geändert, weil dort niemand „Ralf“ richtig aussprechen kann. In Italien fühlt er sich wohl, er spricht fließend Italienisch: „Je weiter südlich, desto freundlicher sind die Menschen“, meint er. 1998 fand er religiöse Heimat bei den Evangelisten.

„Er gehörte nicht hierher“

„Der Ralf hat nie in die Heime gehört“, sagt Lieselotte Kramm, damalige Hausmutter und Ehefrau des 2008 verstorbenen Fritz Kramm, der damals Hausvater der Mühle war. „Das war ein Hans-Dampf, der konnte alles und machte alles. Ich kann nur Gutes über ihn sagen.“

Nachdenklich geht Raffaele Stauch durch das „Haus Magdala“. Was hatte ich hier zu suchen? Die Frage steht ihm ins Gesicht geschrieben. Im ersten Zimmer rechts im 3. Stock stellt er sich in die Zimmerecke, in der damals sein Bett stand: „Jetzt stell dir vor, gegenüber noch ein Bett und da vorne ein drittes. Wir hatten wenig Platz“. An der Decke hängt ein Glockenspiel, offenbar zurückgelassen von den letzten Bewohnern, die im August 2016 ausgezogen sind. Raffaele nimmt es mit als Erinnerung.

Im Secondhand-Shop - „absolut einmalig“ - wurde Raffaele Stauch von Sigrid Klingler sofort erkannt. Sie gehört seit 1980 zur NRD und erklärte Raffaele, der es kaum fassen konnte: „Ich erinnere mich an jedes gute Gesicht“. Ein Hans-Dampf ist Raffaele Stauch bis heute. Er ist gern unterwegs: „Mein Traum ist, als Reisender mein Geld zu verdienen.“

Eine Kopie seiner Heim-Akte ist inzwischen in Bozen angekommen. Raffaele Stauch traut es sich zu, alleine oder in Begleitung eines Freundes darin einzutauchen. „Und ich komme ja auf jeden Fall auch mal wieder nach Nieder-Ramstadt“, sagt er am Telefon. „Dass ich damals dort gelandet bin, was vielleicht das Beste, was mir passieren konnte. Was mich belastet, hängt vor allem mit meiner Familie zusammen. In den Heimen ist es mir ganz gut gegangen. Auch der Pfarrer Huthmann war immer zufrieden mit mir. Na ja, ich habe auch jeden Morgen die Windschutzscheibe seines Autos schön geputzt.“


Bild oben: Raffaele Strauch mit Liselotte Kramm neben den Bremer Stadtmusikanten. Vier, die auszogen, mit einem, der auszog.  Die Pappmachéfiguren wurden einst für ein Sommerfest der Mühltalwerkstatt angefertigt.

Raffaele Strauch im Flur von Haus Magdala, wo er früher einmal gewohnt hat 
Raffaele Strauch im Flur von Haus Magdala, wo er früher einmal gewohnt hat

1  Kommentar

  • Karin Schaffert
    30.06.2020 14:58 Uhr

    hans dampf oder Rafaele Stauch ist mein cousin. Mit ihm habe ich mich immer gut verstanden.
    Ich bin etwas traurig das er damals, ohne ein Wort zu sagen, nach Italien abgesetzt hat.
    Gerne hätte ich wieder Kontakt zu ihm, kann ihn aber leider nicht finden
    Vielleicht kann mir hier jemand weiterhelfen
    Mit freundlichen Grüßen
    Karin Schaffert

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