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Ich wollte einfach raus

11.09.2015 |  Gastautor

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Ich wollte einfach raus

Es brauchte nur einen Stock, ein Taschentuch, Hausschuhe und ein paar andere Kleinigkeiten, damit der zwölfjährige Ottmar Jäger seinen Kameraden ein fantasievolles Kasperle-Theater vorspielen konnte. Er lebte auf der Schulbubenstation des Männerhauses. Dort spielte er alltägliche Erlebnisse nach, wie den Kindergottesdienst, gemeinsames Spielen, Werken und Sport.
Mit einer Decke, die er sich als Talar übergeworfen hatte, trug er auch biblische Geschichten vor. Das Gesangbuch in der Hand, übte Ottmar Jäger mit den anderen Buben Gemeindelieder ein. Seinen bis zu drei Stunden dauernden Vorführungen lauschten die Kinder gebannt.  Für das Buch "Aussortiert" berichtete Ottmar Jäger aus seiner Kindheit und Jugend in der NRD.

Viel nachzuholen hatte der kleine Junge, als er 1964 mit neun Jahren völlig verwahrlost auf die Schulbubenstation zog. Anfangs sprach er kaum und nickte nur schüchtern. Auch konnte er nicht sagen, wie alt er war. Oft fand man ihn komplett angekleidet im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Mit zehn anderen Kindern teilte er sich einen Schlafsaal. Sichtlich litt er unter Heimweh: „ Leicht hat man es nicht gehabt, von den Eltern wegzukommen“, erinnert er sich.

Die Mitarbeiter der Station machten sich Gedanken über den kleinen Ottmar und versuchten ihn psychisch durch eine „strenge, aber liebevolle und gerechte Hand“   zu unterstützen. Im Laufe der nächsten Jahre wurde Ottmar Jäger etwas sicherer im Umgang mit den anderen Jungen. Er lernte einfache Regeln einzuhalten, wie zum Mittagessen nicht in den Speisesaal hineinzurennen oder immer die Wahrheit zu sagen.

In der Schule hörte Ottmar aufmerksam zu und stellte geschickte Fragen. Er lernte schreiben und rechnen, wobei ihm das Addieren und Subtrahieren nicht viel Spaß machte. Sie hänselten ihn, was ihn sehr kränkte. Fortan wich er Konflikten aus.

Mit dem Heranwachsen reagierte Ottmar Jäger zunehmend mürrisch auf „Aufforderungen zur Einordnung“  in die Anstaltsregeln. Im Teenie-Alter begann er heimlich zu rauchen und wollte sich nach seinem eigenen Geschmack kleiden. Bunte Oberbekleidung mochte er besonders gern, und manchmal gelang es ihm, etwas aus dem Kleiderfundus zu nehmen. Das trug er dann heimlich unter den ihm zugeteilten Kleidungsstücken, um zu verhindern, es in die Wäsche geben zu müssen. Denn dann konnte es ja passieren, dass jemand anders seine Lieblingsstücke anzog.

Zu gleichaltrigen und älteren Kindern hatte er wenig Kontakt, und wenn, kam es oft zu Streitereien und körperlicher Gewalt, worunter Ottmar Jäger sehr litt: „Mit mir war es nicht leicht. Ich bin nicht gerne zu einem Mitarbeiter oder Mitbewohner gegangen.“  Zu den Kleineren aber suchte er Nähe, um diese bisweilen zu bevormunden, aber auch, um bei Ungerechtigkeiten für sie einzutreten, wie aus seiner Krankenakte bekannt ist.

Wann immer es ging, bat er, hinausgehen zu dürfen, um der Enge der Station und dem anhaltenden Krach zu entfliehen. Als Jugendlicher machte er Botengänge zwischen den Häusern Bodelschwingh und Fliedner, aber auch zwischen Metzgerei, Bäckerei, Waschküche und Küche. Auch zum Bauernhof der Anstalt durfte er gehen, der etwa einen Kilometer entfernt lag. Regelmäßig musste er dort beim Verladen der Milch auf die Kutsche helfen. Auf der Fahrt zur Küche durfte Ottmar auf dem Pferd sitzen, denn er konnte reiten.

Auf der Suche nach einer verantwortungsvollen Aufgabe kam der junge Ottmar Jäger zum Küsterdienst. Die folgenden 40 Jahre begleitete er den Küster bei den Vorbereitungen für die Gottesdienste und den kirchlichen Feiertagen, was ihm viel Freude machte.

Mit knapp 20 Jahren zog Ottmar Jäger aus der Schulbubenstation weg und lebte danach 47 Jahre in verschiedenen Häusern mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen. 2009 konnte er jedoch ein eigenes kleines Apartment beziehen.

In seinem neuen Zuhause fühlt er sich sehr wohl. Der Einzug war für ihn der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Er ist stolz auf seine Selbstständigkeit und glücklich, endlich sein persönliches Reich zu haben. Manchmal nimmt er an Ausflügen oder anderen Veranstaltungen teil. „Heute versuche ich mit den Menschen auszukommen, aber einfach ist es immer noch nicht.“

Ende 2011 erreichte Ottmar Jäger überraschend die Nachricht, dass seine Mutter noch lebt. Zeitlebens hatte er angenommen, seine Eltern seien früh gestorben. „Das war nicht einfach, meine Mutter nach so langer Zeit wiederzusehen. Jetzt fahre ich regelmäßig zu meiner Mutter, jeden Mittwoch bin ich bei ihr.“  Dann sprechen die beiden von früher und heute, und manchmal braucht es auch keine Worte.

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