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Soziale Fähigkeiten erkennen und erweitern

07.09.2018 | Marlene Broeckers

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Marlene Broeckers

Texterin der NRD

Soziale Fähigkeiten erkennen und erweitern

„Menschen können sich sehr verändern, wenn man auf ihre Bedürfnisse eingeht“. Das sagt der Sozialpädagoge Malte Diestel, der seit 28 Jahren zur NRD gehört, seit 15 Jahren als Teamleiter tätig ist und seit zehn Jahren Menschen mit besonderen Verhaltensweisen begleitet. Malte Diestel leitet die Wohngruppe 3 im Pulvermühlenweg 21 in Mühltal, kurz PM 3 genannt. Die acht Männer, die hier wohnen, bilden eine sogenannte Intensivgruppe.

Seit 2012 leben sie, begleitet von acht Mitarbeitenden, in der PM 3 zusammen. Die meisten von ihnen aber kennen sich bereits seit 2008 und haben vorher in der Bergstraße 1 a zusammengewohnt. Die Bergstraße 1 a begann damals als besonderes Projekt mit erhöhtem Personalschlüssel: Menschen mit sehr speziellen Verhaltensweisen sollten hier eine Zeit lang begleitet werden mit dem Ziel, sich dann später in eine normale, gemischte Wohngruppe einzugliedern.

Erweiterung des Angebots

„Es wurde schnell deutlich, dass aus dieser als Übergang geplanten Wohnform eine feste Wohnform werden musste, also eine Intensivgruppe“, berichtet Malte Diestel. „Intensivgruppe“, das klingt ein bisschen wie Intensivstation. „Damit ist aber grundsätzlich kein anderes pädagogisches Konzept verbunden als bei den übrigen Wohnangeboten“, stellt Diestel klar, „was die Bewohner gemeinsam haben ist, dass sie eine festere Struktur brauchen.“ Inzwischen gibt es mehrere Intensivgruppen, und sie teilen alle die Erfahrung, dass es den Bewohner*innen besser geht als in größeren Wohngemeinschaften. Gemeinsam ist den Intensivgruppen ein höherer Betreuungsschlüssel und ein höchst individueller Umgang mit jeder einzelnen Person.

Weil in der Bergstraße 1a ein weiteres Autisten-Angebot gemacht werden sollte, ist Malte Diestel mit seinem Team vor sechs Jahren in die Pulvermühle umgezogen. Das Team traute sich zu, eine auf acht Personen erweitere Gruppe unter den ganz anderen räumlichen Bedingungen zu betreuen, die die Wohnanlage Pulvermühlenweg nun einmal vorgibt.

Wohnen in der Vertikalen

Die Wohnanlage wurde 1994 mit 90 stationären Wohnplätzen für relativ fitte Personen eröffnet, denen man es zutraute, außerhalb des Kerngeländes zu leben. Auch wenn es nur fünf Minuten zu Fuß sind vom NRD-Hauptsitz bis zum Pulvermühlenweg, wurde das Projekt seinerzeit als erstes dezentrales Wohnprojekt gefeiert, und die Menschen, die dort einzogen, waren stolz, „außerhalb der Heime“ zu wohnen. Um von den langen Wohnfluren der alten Häuser wegzukommen, planten die Architekten im Haus 21 damals vertikales Wohnen: Dort wohnten rechts und links des Treppenhauses zwei Wohngruppen, die sich auf jeweils drei Stockwerke verteilten. Statt langer Flure gab es nun viele Treppen. Die Zimmer im Haus Pulvermühlenweg 21 lagen im 1. und 2. Obergeschoss, während im Erdgeschoss die Gemeinschaft zusammentraf.

Diese Architektur wurde leicht verändert, bevor Malte Diestel und sein Team 2012 einzogen. Die Treppe zwischen dem 1. und 2. Obergeschoss wurde zugemacht, im 2. Obergeschoss wird jetzt nur noch eine kleine Küche genutzt. Hier machen die drei Männer, die im 1. Stock wohnen, ihre Brote zum Frühstück und zum Abendessen.

Reizarme Ausstattung

Im 1. Stock gibt es neben drei Bewohner-Zimmern ein Bad, das frei ist von Gegenständen: Keine Handtücher, keine Seife – nichts steht und liegt dort. „Die Bewohner haben ihre Sachen alle im Zimmer, dort hat jeder ein Waschbecken, und wenn sie zum Duschen gehen, nehmen sie alles mit, was sie brauchen“, erklärt Diestel, „würde hier etwas liegen, wäre es sehr schnell verschwunden.“

Dann gibt es noch das Team-Büro und nebenan einen kleinen Gemeinschaftsraum mit Tisch, Sitzbank und zwei Stühlen, ebenfalls sehr reizarm eingerichtet, also ohne Bilder oder Accessoires. Hier treffen sich die drei Wohngenossen zum Essen, hier unterhalten sie sich auch mit den Mitarbeitern darüber, wie der Tag gewesen ist und was der nächste Tag bringen wird. „Es sind drei Individualisten, die hier leben“, erklärt Malte Diestel, „sie ziehen sich gern zurück.“

„Gleichzeitig sind alle drei sehr aktiv, an sozialen Ereignissen interessiert und gern draußen unterwegs“ so der Sozialpädagoge weiter, „genau damit aber haben sie Schwierigkeiten, weil draußen viele Dinge passieren, die sie nicht einschätzen können und die sie oft überfordern.“

Einer der drei fährt zum Beispiel liebend gerne mit dem Bus. Er erträgt dies aber nur eine Station weit, dann muss er aussteigen. Um diesem Menschen das Erlebnis des Busfahrens auch länger zu ermöglichen, steht „Busfahren“ als festes Angebot derzeit in seinem Betreuungsplan. Ein Mitarbeiter fährt dann mit ihm vom Hag in Nieder-Ramstadt bis zum Böllenfalltor Darmstadt und wieder zurück. So kann der Mann die Fahrt ohne Angst genießen. Vielleicht kann er eines Tages allein zum Böllenfalltor fahren.

„Was wir anstreben ist, die sozialen Bedürfnisse und Fähigkeiten eines jeden zu erkennen und zu erweitern“, sagt Malte Diestel. Für die fünf Männer, die im Erdgeschoss wohnen – einer von ihnen in einem Einzel-Apartment - bedeutet dies, dass sie immer einen Mitarbeiter nötig haben, der als Kontaktbrücke funktioniert, wenn sie zusammen sind, zum Beispiel bei den Mahlzeiten. Die fünf Männer wohnen schon seit zehn Jahren zusammen, aber sie „kennen“ sich nicht wirklich. Besser gesagt, ihre soziale Kompetenz reicht nicht aus, um konfliktfrei zusammen sein zu können. „Wir müssen immer zu zweit im Dienst sein, damit einer von uns jederzeit Sicherheit im Erdgeschoss vermitteln und im Zweifelsfall Konflikte beenden kann, bevor sie eskalieren“, erklärt Diestel. „Es gehört zu unseren Fähigkeiten, dass wir genau beobachten und rechtzeitig handeln, um Eskalationen zu vermeiden.“ Das funktioniert gut im Team der PM 3. Das Team ist relativ stabil, Mitarbeiterwechsel sind selten.

Hausarbeit statt Werkstatt

Wir sitzen im Gemeinschaftszimmer im 1. Stock und unterhalten uns schon seit einer Stunde – da kommt Christian Kramer (Name geändert) aus seinem Zimmer. Schon vor geraumer Zeit hat Malte Diestel kurz bei ihm reingeschaut und ihm zugerufen: „Jetzt kannst du bald mal aufstehen, Christian!“ Der junge Mann macht zurzeit eine Werkstatt-Pause. Es gab Versuche in verschiedenen Abteilungen der Werkstatt, aber nichts funktionierte wirklich: „Es gibt gerade kein adäquates Angebot für ihn“, sagt Malte Diestel. Dieses versucht das Wohn-Team nun zu machen. Christian bekommt den Rückzug, den er braucht, und übernimmt im Übrigen ein paar feste Aufgaben in Haus und Hof. Er stellt die Stühle auf die Tische, damit der Raum geputzt werden kann; er bringt den Müll hinaus, jätet Unkraut im Beet vor dem Haus und ist beim Wäschesortieren dabei. Außerdem hilft er, die leeren Getränkekisten hinunter und die vollen ins Haus zu tragen, wenn der Getränkelieferant kommt.

Was Christian jeden Tag gemacht hat, reflektiert er abends mithilfe seines Erzählbuches. Darin sind alle seine Aktivitäten in Bildern zu sehen, und diese helfen ihm, zu berichten, was er heute geleistet hat. Dann geht es an die Planung des nächsten Tages. Dazu kann Christian kleine Bildplatten auf den Tagesplan kletten, zum Beispiel: Mit einem Mitarbeiter im Spätdienst einkaufen gehen; Kaffeetrinken, wenn die anderen beiden aus der Werkstatt zurück sind.

Das „Scheitern“ in der Werkstatt, die Werkstatt-Pause und die aktuelle Tagesstruktur für Christian Kramer – dies sind Themen, die das Team mit Andreas Münch vom „Fachteam Intensiv“ besprochen hat. Obwohl Malte Diestel selbst seit Jahren Intensiv-Experte mit viel Erfahrung und entsprechenden Fortbildungen ist, weiß er die Instanz des Fachteams zu schätzen: „Dieses Team überblickt die NRD ganz anders“. Selbstverständlich tauschen sich auch die acht Team-Mitarbeitenden ständig miteinander aus, diskutieren durchaus kontrovers, so Diestel, und nutzen viel Supervision. Das zahlt sich aus: Im Haus gibt es keine Beschlüsse mehr, das war früher anders. „Beschluss“ wird es genannt, wenn Bewohner*innen zeitweise in ihren Zimmern eingeschlossen werden, zum Beispiel nachts. Dafür ist die Zustimmung eines Richters erforderlich.

Apropos Beschluss – auch die Wohnanlage Pulvermühlenweg wird in einigen Jahren geschlossen, das heißt, die rund 60 Menschen, die dort noch wohnen, werden ebenfalls in die Region umziehen. Deshalb interessiert sich Malte Diestel für die „Regio-Talks“, in denen Kolleg*innen, die bereits „draußen“ arbeiten, mit denjenigen sprechen, die diesen Schritt noch vor sich haben. „Ich denke viel darüber nach“, sagt er, „wie wir die Wohnangebote für unser Klientel gestalten müssen, damit die Menschen bedarfsgerecht wohnen und genügend Schutz haben, um den neuen Sozialraum nutzen zu können. Die meisten wünschen sich eine eigene Wohnung.“

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