02.06.2017 | Benjamin Hartmann und Axel Seib-Mertinat
Um Zusammenhänge und Entwicklungen zu verstehen, kann es Sinn machen, etwas genauer in die Vergangenheit zu schauen. Die Behindertenhilfe kommt aus einer medizinisch dominierten Vergangenheit, die den Menschen entmündigte. Behinderung wurde als Krankheit betrachtet, Menschen mit Behinderungen waren „Patienten“ oder „Pfleglinge“.
„Satt – sauber – grundversorgt“. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden große Einrichtungen, die vielen behinderten Menschen ein Obdach und medizinische Versorgung gaben. Der Preis, den die Betroffenen dafür zahlten: Sie wurden in Sonderwelten eingesperrt und entrechtet und hatten dafür sogar dankbar zu sein.
Die Vielfältigkeit der Verhaltensmuster von Menschen mit geistiger und/oder psychischer Behinderung wurde damals nicht verstanden bzw. als krank betrachtet. Der Mensch „funktionierte“ nicht richtig und musste therapiert werden. Medikamentengabe, Zwangs- und Erziehungsmaßnahmen waren die Folge.
In den großen Einrichtungen etablierten sich Strukturen, die wir zum Teil auch bei uns in der NRD heute noch antreffen. Die Tagesabläufe (Essenszeiten, Pausen-, Ruhe- und Schlafenszeiten, „Duschpläne“), richten sich nach den Dienstzeiten der Mitarbeitenden. Die Arbeitsorganisation der Einrichtung bestimmt den Alltag der Menschen, statt dass der Mensch und seine Bedürfnisse die Arbeitsinhalte und deren Organisation bestimmen.
Weitreichende Fremdbestimmung: Wer bestimmt, wann ich esse, wie ich esse oder sogar was? – Unter dem Vorwand der Gesundheitsfürsorge werden Genuss und Selbstbestimmung untersagt oder eingeschränkt, bei Tisch werden Zwangsgemeinschaften gefordert. Wie und wie häufig dusche oder wasche ich mich? Was ziehe ich an und wie häufig wechsle ich meine Kleidung? Komme ich an mein Eigentum, oder werden meine Schränke von Mitarbeitern abgeschlossen? Sind meine Privaträume wirklich privat oder werden sie in meiner Abwesenheit ständig betreten?
Strukturen im Kopf
Schon in der Schule lernen wir: Gut ist, wer gute Noten hat, wer sich an die Regeln hält. In der Arbeitswelt setzt sich das oft fort: Wir sind gut, wenn wir einen guten Job machen.
Der Wert eines Menschen wird durch Leistung definiert, schlimmer noch: Er definiert seinen Wert selbst durch Leistung. Dieses Wertesystem leistet einen mehr oder weniger starken Beitrag zu unserem individuellen Menschenbild, zu unserer persönlichen Grundhaltung uns selbst und anderen gegenüber. Es ist ein Wertesystem, in dem Menschen mit Einschränkungen immer verlieren.
Und nun? Wie können wir uns als Einrichtung, als Wohngruppe, als einzelner Mitarbeiter aus diesen starren und widerstandsfähigen Strukturen lösen? Wie
bringen wir Qualität in die Betreuung der Menschen?
Wohngruppen an andere Orte zu verlegen oder bauliche Maßnahmen zu treffen, reicht bei weitem nicht aus. Wir müssen unsere Haltung hinterfragen und sie an dem ausrichten, was die Menschen, die wir begleiten und unterstützen, wirklich von uns wollen. Eine Botschaft, die Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ersehnen, ist: Schön, dass du da bist! Gut, dass es dich gibt!
Wie gelangen wir zu einer Haltung, die dieser Botschaft entspricht? Einen Menschen unabhängig von seinen Leistungen, seinen Fähigkeiten oder auch seiner Anpassungsfähigkeit anzunehmen, so wie er ist, und genau hinzusehen, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.
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